Wie die Vöglein so lieblich singen
14 August - 11 September 2022
Wie die Vöglein so lieblich singen versammelt eine Gruppe von Werken, die zwischen den 1960er Jahren und der Gegenwart entstanden sind. Die Ausstellung verweigert einen einzelnen Erzählstrang und präsentiert eine Gruppe von Verbindungen zwischen Themen wie Kindheit, Freizeit, Nostalgie und Unterdrückung. Der Titel der Ausstellung ist der Nacherzählung des Rotkäppchens der Gebrüder Grimm entnommen und stellt den Versuch des Wolfes dar, die gleichnamige Heldin von ihrer Aufgabe abzulenken. Der Wolf schlägt ihr vor, ein paar Blumen zu pflücken und innezuhalten, um das Vogelgezwitscher zu genießen. Hier wird die Phrase natürlich ironisch eingesetzt.
Ursula Wilcke würde sich selbst nicht als professionelle Künstlerin bezeichnen. Eigentlich ist sie eine Rentnerin, die in Magdeburg lebt. Sie wurde jedoch in Wiepersdorf geboren und lebte als Kind auf dem Bauernhof, der heute als Galerie Jägerschere fungiert. Bei Aufräumarbeiten in einem der Galerieräume wurde eine Gruppe von ausrangierten Kinderskizzen aus der Mitte der 1960er Jahre entdeckt, die einen wichtigen Beitrag zur Ausstellung bilden. In ihrem naiven Stil spiegeln sie die gelebte Erfahrung der Kindheit in der DDR wider. Porträts von Lehrern, Ostseeurlauben und Arbeitern in einer Fabrik mischen sich mit jahreszeitlichen Grüßen und Studien von Blumen. Einige sind Schularbeiten, andere sind private Reflexionen, und sie sprechen zu uns über die Jahrzehnte hinweg.
Einen ähnlichen Ton schlägt Natasha Frioud in ihrem Werk 'Traurige Hotels' an. Diese Serie von Dias, die in Kisten auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden gefunden wurden, zeigt eine Reihe von halbverlassenen Hotels am Mittelmeer. Sie zeigen leere Strände und modernistische Architektur und sind chromatische Performances der Nicht-Erinnerung und Nostalgie. Die Bilder stammen von einer Reihe von Kameras gewöhnlicher, unbekannter Menschen, von denen die meisten jetzt wahrscheinlich tot sind. Sie stellen ein Netzwerk persönlicher Geschichten dar, die sich miteinander verbinden und so zu einem Plural und Kollektiv werden.
Irina Gheorghe bringt uns mit ihrer 2019 entstandenen Arbeit "MA-TE-MA" eine andere Kindheitserinnerung nahe, die in diesem Fall völlig konstruiert ist. Eine Fotoserie zeigt eine junge Frau, die anhand eines Kinderspiels erforscht, wie abstrakte Vorgänge im Raum des Geistes zu physischen Objekten werden. Das Spiel selbst und der Farbraum der Fotografien scheinen den Seiten einer Zeitschrift aus den 1970er Jahren entsprungen zu sein. Aber in der Anordnung dieser einfachen Geometrien spüren wir eine Handlung, die im Grunde genommen propositional ist, ein Amalgam aus konkreter Form und Spekulation.
Form und Spekulation sind auch in "Kali", einer Zweikanal-Videoinstallation von David Krippendorff, von Bedeutung. Inspiriert von Nina Simones Interpretation von Pirate Jenny aus B. Brecht/K. Weills "Dreigroschenoper" hat Krippendorff den Text des Liedes in einen dramatischen Monolog umgeschrieben. Dieser wird von der Schauspielerin Hiam Abbass auf Arabisch vor der Kamera vorgetragen. Die uns vorgestellte Jenny, die für einen Hungerlohn in einem Heruntergekommen Hotel arbeitet, ist voll von der gerechten Wut ihres Brechtschen Vorgängers. Doch indem sie Ideen von Überwachung und staatlicher Macht ins Spiel bringt, wird diese Fantasie von Rache und Selbstverwirklichung in einen völlig zeitgenössischen Kontext transportiert.
Ute Fründt präsentiert eine frühe Arbeit aus dem Jahr 2006 aus ihrer Serie "Rooms". Fründts Gemälde sind oft verspielt und von imaginären, magischen Qualitäten durchdrungen. Doch hier ist der Ton gedämpfter und die Erinnerung scheint die Hauptrolle zu spielen. Ein verschlafenes, ungemachtes Bett, ohne menschliche Figuren, steht in einem Raum. Vielleicht ein Hotel oder eine italienische Pension aus den 1960ern oder den 1980ern....? In all seiner Spezifizität (die Durchsichtigkeit des Stoffes, das Lichtspiel durch das Fenster) verleugnet das Werk das Besondere, und wir könnten einen Moment aus fast jedem Zeitpunkt der letzten sechzig Jahre beobachten.
Die Arbeiten von Sabine und Peter Rossa vervollständigen die Ausstellung. Die beiden Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weißensee aus den späten 1960er Jahren stehen mit ihrer Bildsprache ganz in der Tradition der Art Brut. Ihre figurativen Holzskulpturen sind jedoch auch stark von ihrer eigenen Geschichte als Künstler in der DDR und später im vereinten Deutschland geprägt. Das gemalte Gesicht der in "Abgeschminkt" dargestellten Frau könnte an Piraten-Jenny vorbeigegangen sein, in einem von Friouds Hotels gesourced oder in Fründts Bett geschlafen haben. Sie könnte einen von Wilckes Gymnasiallehrern gekannt haben. Die Verflechtung und Vermischung dieser Geschichten, ihre Ansprüche aneinander, das sind vielleicht die süßen Töne einer Art Vogelgesang, der uns unweigerlich abzulenken scheint.
Wie die Vöglein so lieblich singen
14 August - 11 September 2022
‘Wie die Vöglein so lieblich singen’ brings together a group of works produced between the 1960s and the present day. Refusing a singular narrative thread, the exhibition presents a group of interconnections between thematics of childhood, leisure, nostalgia and oppression. The title of the show, taken from the Brothers’ Grimm re-telling of Little Red Riding Hood, is the wolf’s attempt to distract the eponymous heroine from her task. The wolf suggests she goes and picks some flowers and stop to appreciate the birdsong. Here, of course, the phrase is ironically deployed.
Ursula Wilcke would not consider herself a professional artist. In fact she is actually a pensioner who lives in Magdeburg. She was, however, born in the village of Wiepersdorf and as child lived on the Bauernhof that now functions as the Jägerschere gallery. A group of her discarded childhood sketches from the mid 1960s were discovered whilst clearing one of the gallery spaces and these form a keynote contribution to the exhibition. Necessarily naïve in style they are nonetheless redolent of the lived experience of childhood in the DDR. Portraits of teachers, Baltic coast holidays and workers in a factory are intermingled with seasonal greetings and studies of flowers. Some are school work, some are private reflections and they speak to us across the decades.
A similar note is struck by Natasha Frioud in her work ‘Traurige Hotels’. This series of slides found in boxes at flea markets and antique shops show a range of semi-deserted Mediterranean Hotels. Showing empty beaches and modernist architecture, these are chromatic performances of non-memory and nostalgia. Coming from a range of cameras belonging to ordinary, unknown people, most of whom are now probably dead, the images present a network of personal stories that combine together, becoming plural and collective.
Irina Gheorghe brings us to another memory of childhood, in this case one which is entirely constructed, with her 2019 work ‘MA-TE-MA’. A photographic series shows a young woman using a children’s game to explore the way abstract procedures in the space of the mind become physical objects. The game itself and the colour space of the photographs seem to have leapt off the pages of a 1970’s magazine. But in the arrangement of these simple geometries we sense an action this is fundamentally propositional, an amalgam of concrete form and speculation.
Form and speculation are similarly resonant qualities in ‘Kali’ a two-channel video installation by David Krippendorff. Inspired by Nina Simone’s rendition of Pirate Jenny, from B. Brecht/K.Weill’s „Three Penny Opera“, Krippendorff has rewritten the lyrics of the song as a dramatic monologue. This is performed to camera by actress Hiam Abbass in Arabic. The Jenny we are presented with, working for shitty wages in a shitty hotel, is replete with the righteous anger of her Brechtian forbear. But in bringing ideas of surveillance and state power into play this fantasy of revenge and self-realisation is transported to an entirely contemporary context.
Ute Fründt presents an early work from 2006 taken from her “Rooms” series. Fründts paintings are often playful and infused with imaginary, magical qualities. But here the tone is more muted and recollection seems to take the leading role. A slept in, unmade bed, devoid of human figures, stands in a room. Maybe a hotel, or Italian pension from the 1960s or the 1980s….? In all its specificity (the translucency of the fabric, the play of light through the window) the work denies the particular and we might be observing a moment from almost any point in the last sixty years.
The work of Sabine and Peter Rossa completes the exhibition. Graduates of the Berlin Weißensee Art School in the late 1960’s, their visual language owes much to an Art Brut tradition. Their figurative wooden sculptures are nonetheless also greatly infused with their own histories as artists within the DDR and subsequently in a unified Germany. The painted face of the woman depicted in ‘Abgeschminkt’ could have walked past Pirate Jenny, or sourjoured in one of Frioud’s Hotels or slept in Fründts bed. She could have known one of Wilcke high-school teachers. The folding and intermingling of these histories, their claims upon one another, these perhaps are the sweet tones of a kind of birdsong that seems, inevitably, to distract us.